Gitterstäbe, Gewalt, Grausamkeit – das verbinden viele Menschen mit dem Stichwort „Gefängnis“. Dazu das Bild von Verbrechern, die den ganzen Tag in überfüllten Zellen herumlungern, Drogen konsumieren oder nach der nächsten Möglichkeit zur Flucht Ausschau halten. Dass das Gefängnis in Deutschland in der Realität meist anders aussieht, ist vielen Menschen nicht bewusst oder sie wollen es nicht bewusst machen. Ich möchte mit dieser shorthand-Seite einladen, einen Blick hinter den Stacheldrahtzaun zu werfen und das Gefängnis aus einer neuen Perspektive zu betrachten: als Teil unserer Gesellschaft, als ein Ort mit Musik, Leben und Inhaftierten, die ebenso Menschen sind wie wir.
Gefängnis in Deutschland
In Deutschland gibt es die verschiedensten Arten von Gefängnissen, darunter ist auch der offene und der geschlossene Vollzug. Weil gerade diese Haftformen sich stark unterscheiden und der offene Vollzug gesellschaftlich noch weitgehend unbekannt ist, fand ich es spannend, diese Gefängnisarten näher zu betrachten. Dafür habe ich den offenen Vollzug in Castrop-Rauxel und den geschlossenen Vollzug in Offenburg besucht und mit den Inhaftierten Menschen vor Ort gesprochen.
Unterschiede
Der geschlossene Vollzug muss strenge Sicherheitsmerkmale erfüllen: Vergitterte Fenstern, elektronische Türen und durch eine Mauer abgeschirmt von der Außenwelt. Die Gefangenen verbringen innerhalb von diesem Gelände die gesamte Haftzeit, in einem streng getakteten Alltag aus Arbeit, Essen und einer Stunde Freizeit am Tag.
Der offene Vollzug bildet dazu einen starken Kontrast: Gitter und hohe Mauern sucht man hier vergeblich. Hier sind Inhaftierte untergebracht, bei denen keine Fluchtgefahr und kein akutes Risiko für eine neue Straftat besteht. Die Gefangenen können sich frei auf dem Gelände bewegen oder das Gelände verlassen unter bestimmten Voraussetzungen verlassen, um außerhalb zu arbeiten.
Die Haftzeit ist durch den Freiheitsentzug und die Fremdbestimmung im Alltag eine Bestrafung für verschiedenste Delikte – gleichzeitig ist im Strafvollzugsgesetz das Ziel festgelegt, Gefangene während und nach der Haft zu resozialisieren. Den Inhaftierten soll also ein selbstständiges Leben in der Gesellschaft ermöglicht werden, ohne weitere Straftaten. Dazu gehört eine existenzielle Lebensgrundlage, also eine Arbeit und Wohnung, ebenso wie gesellschaftliche Teilhabe. Um das zu erreichen, sind Gefängnisse verpflichtet, während der Haftzeit zum Beispiel Gespräche mit Psychologen, eine Arbeit und Möglichkeiten zur Weiterbildung anzubieten. Freizeitangebote sind in Gefängnissen zwar optional, aber sehr verbreitet – und gerade musikalische Aktivitäten machen den Großteil der Angebote aus. Dazu zählen zum einen passive Angebote, wie Konzerte von externen Musiker*innen, und aktive Angebote, wie Chöre, Instrumentalunterricht und Workshops.
„Zusammen sind wir stark“
Auch in der Justizvollzugsanstalt Offenburg (JVA) gibt es regelmäßig Musik im Gottesdienst und einen Chor, der sich jeden Dienstagabend zur Probe trifft. Das Besondere: Hier singen ehrenamtliche Besucher*innen und Inhaftierte zusammen. Jeder ist willkommen, unabhängig davon, welche Vorerfahrungen beim Singen mitgebracht werden. Das Repertoire reicht von Oldies, über Gospels bis zu aktuellen deutschen Liedern. Unter den Teilnehmenden ist auch Akin*, der seit ein paar Jahren in Offenburg inhaftiert ist und schon sein Leben lang Musik macht. Er erzählt von seinem Alltag im Gefängnis und davon, was der Chor und die Musik für ihn bedeutet. *Name geändert
Disclaimer: Das folgende Video zeigt subjektive Meinungsäußerungen. Diese entsprechen nicht zwingend der Ansicht der Autorin oder der JVA Offenburg.
Vom geschlossenen zum offenen Vollzug
Gefängniskonzert in Castrop-Rauxel
nnn
Die Knastkulturwoche
Die Knastkulturwoche 2022 fand unter dem Motto „begrenzt, bewegt, befreit“ in verschiedenen Gefängnissen in Nordrhein-Westfalen statt. In diesem Rahmen präsentieren Inhaftierte eigene künstlerische Projekte, die sie über das Jahr erarbeitet hatten. Dadurch konnten sich die Inhaftierten auch mit ihrer Tat und aktuellen Situation auseinandersetzen. Außerdem fanden Lesungen, Ausstellungen und Konzerte statt, die den Austausch zwischen den Gefängnissen und den Menschen von außerhalb verstärken sollen. Ein Teil davon war das Konzert „Der kleine Urlaub vom Alltag“ von Dr. Mojo und Gerd Linnepe im offenen Vollzug JVA Castrop-Rauxel.
Dr. Mojo
Klaus Stachuletz, auch unter dem Künstlernamen „Dr. Mojo“ bekannt, spielt als One-Man-Band an den verschiedensten Orten: In der Kirche, auf Festivals, im Club oder Altheim. Einen besonderen Stellenwert haben dabei seine Benefizkonzerte in Hospizen, Krankenhäusern und Gefängnissen. Musikalisch ist Dr. Mojo im Blues zu Hause und covert Oldies, Folksongs und Balladen.
Im November 2022 habe ich ihn bei seinem Konzert mit dem Harpisten Gerd Linnepe in der JVA Castrop-Rauxel begleitet. Das Besondere: Hier waren Besucher*innen von außerhalb und Inhaftierte gleichermaßen willkommen.
Diana Ezerex
Diana Ezerex ist eine Singer-Songwriterin aus Karlsruhe. 2016 tourte sie mit ihrer Band erstmals durch Deutschland, ein Jahr später folgten Solo-Konzerte in Gefängnissen. Die Eindrücke und Erfahrungen, die sie dabei erlebte, hat die Sängerin in ihrem Debutalbum „My Past´s Gravity“ verarbeitet. Die Themen der Songs changieren auf der einen Seite zwischen Schuld, Reue und Suizid und Hoffnung, Zukunft und Vergebung auf der anderen.
Diana Ezerex erzählt im Video von ihren Erfahrungen im Gefängnis und wie sie sich dadurch verändert hat.
Perspektivwechsel
Die Sicht eines Inhaftierten Musikers
Yero* war zunächst im geschlossenen Vollzug und zum Zeitpunkt unseres Interviews seit ein paar Monaten in Castrop-Rauxel inhaftiert. Er erzählt mir von seiner Zukunftsvision für das Gefängnis und der Bedeutung, die Musik für ihn hat.
Für das Gespräch haben wir uns vor dem Konzert in seiner Zelle getroffen (rechts im Bild). Die Zelle nennen alle hier „Stube“ und kann von den Inhaftierten selbst eingerichtet werden.
*Name geändert
Yero* ist in seinem früheren Leben als Gitarrist und Perkussionist durch die Welt getourt – Musik war sein Mittelpunkt. Doch seit er im Gefängnis ist, hat er keine Möglichkeit mehr, selbst Musik zu spielen, auch Livemusik ist eine Seltenheit. Ich frage mich: Wie kommt Yero mit seinem neuen Alltag im offenen Vollzug zurecht? Und: wie ist es überhaupt dazu gekommen?
Brauchen wir Musik im Gefängnis?
In unserem Alltag ist Musik allgegenwärtig – wir hören Musik übers Handy, im Radio, in Konzerten oder musizieren selbst. Im Gefängnis sieht das anders aus: Inhaftierte Menschen haben – gerade im geschlossenen Vollzug – nur eingeschränkte Möglichkeiten, um Musik zu erfahren: Handys und der Zugang zu Internet sind verboten, Konzerte selten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum Einen stehen für Musikangebote wenig Geld und Fachpersonal zur Verfügung, Gefängniskonzerte - wie etwa in Castrop-Rauxel – sind daher fast immer ehrenamtlich organisiert. Zum Anderen soll die Gefängnisstrafe durch Freizeit- und Musikangebote nicht zu sehr erleichtert werden.
Gleichzeitig kann gerade Musik für Inhaftierte eine Unterstützung sein, um zurück in die Gesellschaft und in einen geregelten Alltag zu finden und so langfristig helfen, neue Straftaten zu verhindern.
Fazit und Ausblick
Musik bereichert
Musik wirkt in vieler Hinsicht auf den Menschen: Sie kann Emotionen verstärken, motivieren, ablenken oder helfen, Gefühle überhaupt erst wahrzunehmen und auszudrücken.
Diese Wirkung verstärkt sich noch, wenn wir selbst Musik machen, wie beim Singen: Aktives Musizieren fördert die Körperwahrnehmung, steigert das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit. Skills, die Inhaftierte oft noch entwickeln müssen.
Beim Musizieren in der Gruppe, wie im Chor Offenburg, entsteht zusätzlich ein Gemeinschaftsgefühl. Jeder ist eingebunden in eine Mikro-Gesellschaft - Erlebnisse, die essenziell sind, um nach der Haft in die Gesellschaft zurückzufinden.
„Jailbreak“ (engl.: Gefängnisausbruch)
Musik hilft daher, aus dem Gefängnisalltag „auszubrechen“, Menschen zu verbinden und z. Bsp. mit öffentlichen Konzerten den Bruch zwischen der Welt draußen und drinnen zu überwinden. Und Musik trägt dazu bei, Gefängnisse als ein Teil unserer Gesellschaft zu erleben. Dennoch ist Musik im Gefängnis kein Allheilmittel. Für eine erfolgreiche Resozialisierung spielen viele Faktoren eine Rolle.
Auch gibt es aktuell nur wenige Studien, die sich mit dem Einsatz von Musik im Gefängnis beschäftigen1. Hier wäre es spannend, insbesondere mehr musiktherapeutische und -pädagogische Angebote zu schaffen, die gezielt in Fallstudien untersucht werden können.
1 Einzige aktuelle Publikation: De Bánffy-Hall, Alicia; Eberhard, Mark; Ziegenmeyer, Annette; u.a.: Musik im Strafvollzug – Perspektive aus Forschung und Praxis, Waxmann, Münster, 2021
Vielen Dank!
Betreuung
Prof. Maximilian Richter
Moritz Chelius
Interviews
Diana Ezerex
Julius Wandelt
Klaus Stachuletz
Gerd Linnepe
Prof. Dr. Thomas Hillecke
Mein besonderer Dank geht an die inhaftierten Menschen der JVA Offenburg und JVA Castrop-Rauxel, die für Interviews und Gespräche zur Verfügung standen.
Herzlichen Dank an Simon Schilling (JVA Offenburg), Michael Drescher (JVA Karlsruhe) und Armin Kersting (JVA Castrop-Rauxel) und BIOS BW Karlsruhe, ohne sie wären die Aufnahmen nicht möglich gewesen.
Kamera / Licht / Ton
Sophie von Jena
Lora Ganeva
Laura Schiffler
Clara Schwarz
Diese Shorthand-Website ist das Produkt der Bachelorarbeit von Julia Kesch im Fach Musikjournalismus an der Hochschule für Musik Karlsruhe, entstanden im Wintersemester 2022 / 2023.